Earthside – Let the Truth speak

In jedem Raum ein wahrhaftiges, musikalisches Feuerwerk.

Wenn man dem US-amerikanischen Prog-Künstler-Kollektiv EARTHSIDE rückblickend einen Vorwurf machen möchte, dann den, dass es sich zu viel Zeit gelassen hat. Zu viel Zeit zwischen dem 2015 erschienenen Debütalbum „A Dream in Static“ und dem nun erscheinenden Nachfolger „Let The Truth Speak“. Unser Raphael Päbst bescheinigte der Band vor acht Jahren in seiner Rezension zu „A Dream in Static“ ein „verdammt abgeklärtes“ und „hervorragend produziertes“ Album. Fans des modernen Prog sollten sich das „auf keinen Fall entgehen lassen“. Und das taten sie auch nicht. EARTHSIDE gelang mit ihrem selbstproduzierten Debüt ein Achtungserfolg. Umso gespannter darf man nun sein: Wie hat sich die Band bis 2023 weiterentwickelt?

„Nur“ Cineasmus und Prog?

Eines vorweg: Cineastische Großleinwandgemälde (musikalisch, versteht sich) und postproggige Strukturen sind nach wie vor das, was die Musik von EARTHSIDE im Innersten zusammenhält. Doch die Band auf diese Weise zu vereinfachen, würde ihr nicht annähernd gerecht werden. Und: Neben den Ideen der talentierten Bandmitglieder haben sich EARTHSIDE auch wieder Gastmusiker ins Boot geholt, die das Album enorm bereichern.

In die Welt von „Let The Truth Speak“ werden wir mit einem kurzweiligen Instrumentalstück eingeführt, das von traumhaften Percussions umrahmt wird. Nach der Hälfte des Songs übernehmen dann die Gitarren und fette Grooves. Wie als Statement, dass schwebende Klangmalereien und rockige Arrangements Hand in Hand gehen, verwebt die Band Midtempo-Trommeln mit Percussion-Elementen und umarmt sie mit New-Age-Streichern. Etwas konservativ-progressiver – hier bitte ein Zwinkersmiley einfügen – wird es bei ‚We Who Lament‘. Hier übernimmt die aus Ottawa, Kanada, stammende Künstlerin Keturah Johnson die Lead-Vocals. Mal expressiv, mal zerbrechlich, aber immer auf den Punkt im Ausdruck, erinnert sie mich am ehesten an Claudio Sanchez von COHEED AND CAMBRIA. Bei ‚Denial’s Aria‘ darf Keturah noch einmal ran und zeigt eine andere Facette von sich, singt im ruhigeren Songumfeld durchaus intimer und entwickelt sich zu einem Highlight unter vielen auf dem Album.

Genre-Grenzen: Herausforderung statt Limit

Wie sehr die Band in der Lage ist, Genregrenzen zu durchbrechen, zeigt das deutlich aggressivere ‚Pattern Of Rebirth‘. Text und Melodie stammen von AJ Channer, Frontmann der texanischen Rap-Metal-Band FIRE FROM THE GODS. Wir bewegen uns in modernen Gefilden, berühren VOYAGER-Fahrwasser und können uns von der Qualität des Textes überzeugen. Denn AJ verarbeitet hier den Tod seines Vaters auf eine Gänsehaut erzeugende, ehrliche und zutiefst emotionale Weise.

Exotischere Klangteppiche knüpft die Band mit Pritam Adhikary von der indischen Metal-Band AARLON. ‚Tyranny‘ mündet in einen dramatischen Schlussteil, in dem Adhikary in bengalischer Sprache förmlich um sein Leben singt. Im Titeltrack hören wir den genial-einzigartigen TESSERACT-Frontmann Daniel Tompkins neben dem russischen Sänger Gennady Tkachenko-Papizh. Letzterer ist in mehreren Songs zu hören – seine natürliche, organische Stimme ist in jedem Song eine Veredelung.

Wer jetzt denkt, er hätte schon alles gelesen, dem möchte ich widersprechen. „Let The Truth Speak“ ist ein Album für Entdecker. Ich habe noch nicht einmal alle Gastmusiker erwähnt. Und dass sich die Band im letzten Song des Albums, ‚All We Know And Ever Loved‘, nicht nur von einer riesigen Pfeifenorgel, Bläsern und Percussionisten begleiten lässt, sondern sich auch noch ein Schlagzeug-Battle mit Baard Kolstad von LEPROUS liefert – davon will ich gar nicht erst anfangen.

Fazit: Expressionismus heiratet Rockmusik

Was bleibt nach diesem musikalisch-architektonischen Meisterwerk, bei dem in jedem Raum ein neues Feuerwerk an Ideen gezündet wird? EARTHSIDE eröffnet eine Welt, in der Expressionismus auf avantgardistischen Progressive Rock trifft – was sich kongenial im Artwork widerspiegelt. Die Musik ist ein tiefes Eintauchen in Emotionen. Gleichzeitig erkundet die Band mutig experimentelle Räume. Jeder Song ist ein Kaleidoskop der Gefühle, gemalt mit besonders dunklen oder hellen musikalischen Farben. Diese Mischung berührt und fordert heraus. Sie überträgt die rohe Energie des Expressionismus in die Komplexität moderner Rockmusik.

Das Ergebnis ist ein Album, das innovativ und herausfordernd zugleich ist. Während die Tracks die Grenzen der Genres erweitern, bleibt offen, inwieweit diese Experimente auf breiterer Ebene Anklang finden werden. Das Album ist daher weniger ein unmittelbares Hörerlebnis, als vielmehr eine kühne Aussage innerhalb des Progressive Rock. Obwohl sich die Band in den Songs teils sehr nahbar gibt, wahrt sie letztlich doch eine gewisse Distanz zum Hörer. Die Musik bewegt sich auf einem so hohen Niveau zwischen intensiven Ausdrucksformen und der komplexen Struktur des modernen Rock, dass sie sich nicht jedem sofort in ihrer ganzen Komplexität erschließt. Während sich die einen nach jeder Genre-Grenzverschiebung die Lippen lecken, werden sich andere nicht auf diese Entdeckungsreise einlassen.

Ich verorte mich irgendwo in der Mitte: Weder habe ich das musikalische Wissen noch den Anspruch, das Album in seiner Gesamtheit erfassen zu können. Noch schreckt mich das aber auch. Ich genieße die Highlights, die genialen Momente und die emotionale Tiefe und Zerbrechlichkeit der Musik.

Update vom 19. November: Havoc, ein Leser aus unserem Forum, wies unter Verweis auf unseren ehemaligen Chefredakteur Peter Kubaschk zurecht darauf hin, dass bei der aktuellen Pressung des Albums von Music Theories Recordings (Katalog-Nr.: MTR76522) der letzte Song des Albums ‚All We Knew And Ever Loved‘ fehlt, obwohl er in der Tracklist aufgeführt ist. Es handelt sich also um eine Fehlpressung. Der Song ist auf den Streaming-Plattformen allerdings hörbar. Da wir für Rezensionen normalerweise mit MP3s bemustert werden, ist mir das zunächst nicht aufgefallen.

9 von 10 Punkten

Trackliste:

  1. But What If We’re Wrong (feat. Sandbox Percussion)
  2. We Who Lament (feat. Keturah)
  3. Tyranny (feat. Pritam Adhikary of Aarlon)
  4. Pattern Of Rebirth (feat. AJ Channer of Fire From The Gods)
  5. Watching The Earth Sink
  6. The Lesser Evil (feat. Larry Braggs & Sam Gendel)
  7. Denial’s Aria (feat. Keturah, VikKe & Duo Scorpio)
  8. Vespers (feat. Gennady Tkachenko-Papizh & VikKe)
  9. Let The Truth Speak (feat. Daniel Tompkins
  10. All We Knew And Ever Loved (feat. Baard Kolstad of Leprous)